WESTFALICA: Hallo Frau Kessel! Schön, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.
Fr. Kessel: Hallo! Kein Problem, gern erzähle ich Ihnen etwas über Yoga.
WESTFALICA: Starten wir mit ein paar Informationen zu Ihrer Person. Erzählen Sie doch bitte ein wenig über sich.
Fr. Kessel: Ich heiße Katharina Kessel, bin 38 Jahre alt und wohne in Greven. Ich habe zwei Kinder, einen Mann, ein Haus und ein Elektroauto (sie lacht). Und ich bin Biologin an der Uniklinik Münster und unterrichte Yoga neben dem Beruf.
WESTFALICA: Wie sind Sie denn selbst zu Yoga gekommen?
Fr. Kessel: Das war mit Anfang Zwanzig über die Familie meines damaligen Freundes. Yoga war damals für mich hauptsächlich eine Meditationspraxis, bei der ich mich hinsetze und versuche, in mich einzukehren. 2016 bin ich das erste Mal in eins der modernen Yogastudios gegangen, wie sie heute existieren: Die Teilnehmer treffen sich mit ihrer Matte und praktizieren Yoga, oft zu zeitgemäßer Musik. Für mich war diese Umgebung in Verbindung mit dem sportlichen Aspekt genau richtig. So entstand eine Verbindung aus dem, was ich tue, egal ob das jetzt mein Sport ist, meine Arbeit, mein Familienleben und eben meiner Yogapraxis. So hat sich Yoga immer mehr ausgebreitet auf alle meine Lebensbereiche.

Yoga: Mode oder Trendsport?
WESTFALICA: Sie haben erwähnt, dass Sie von der Mode “Yoga” erst einmal nichts mitbekommen haben. Ist Yoga eine Mode, ein Trendsport oder eher eine Lebenseinstellung?
Fr. Kessel: Das ist eine schwierige Frage. Zunächst glaube ich, dass Yoga als Trendsportart für viele Menschen der Einstieg ist. Sie suchen nach einer körperlichen Ertüchtigung, die nicht so leistungsorientiert ist. Andere wiederum haben körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen, Nackenschmerzen… Sie finden mit Yoga eine Bewegungsform, die sie ausführen können und die Beschwerden vielleicht sogar lindern kann. Inzwischen gibt es fast überall ein Yoga-Angebot: VHS, Bildungszentren, Fitness- und natürlich Yogastudios. So kann jeder früher oder später den richtigen Kurs für sich finden. Viele Menschen begreifen mit der Zeit, dass es beim Yoga nicht nur um körperliche Aspekte geht. Sie denken dann auf einmal über Vieles in ihrem Leben nach und beginnen – manchmal unbewusst – Dinge zu verändern und entwickeln ein positiveres Lebensgefühl. Die Arbeit mit dem Atem kann zudem ein tieferes Verständnis über den eigenen Körper und Geist verschaffen. Wir treffen Yoga also als Bewegungstrend oder Gesundheitssport, aber eben auch als spirituellen Anker. Yoga hat definitiv das Potenzial, sinngebend zu sein.
Yoga und Spiritualität
WESTFALICA: Ist Yoga denn immer etwas Spirituelles?
Fr. Kessel: Für mich ist es immer spirituell, aber nicht im Sinne von religiös oder dass ich immer ein Mantra singen muss, sondern einfach nur, dass ich hinter allem, was passiert, einen tieferen Sinn sehe. Jede Erfahrung lehrt mich etwas. Außerdem vermittelt die Yogaphilosophie, dass ich quasi meines Glückes Schmied bin. Ich kann mein Leben selbst in die Hand nehmen und meine Rückenschmerzen auch. Und das fängt auch damit an, wie ich atme und mich bewege. “Spirituell” kommt von “spirit”, übersetzt ‘Atem’. Der Ansatz lautet also: Ich lebe, ich atme, und das ist sinnvoll. Der Atem spielt im Yoga sowieso ein große Rolle. Ohne Atem ist es nur Gymnastik, wie man so schön sagt.
WESTFALICA: Wie würden Sie beschreiben, was Yoga für Sie ist?
Fr. Kessel: Alles. Alles ist Yoga. Ich bin Naturwissenschaftlerin, und wenn ich mich nur darauf besinne, lande ich schnell in einer Sackgasse. Ich brauche einen weiteren Lebenssinn. Diesen Sinn finde ich durch Yoga. Außerdem kann ich mit Yoga wunderbar Stress entgegenwirken und zu tiefer Entspannung finden, auch wenn viel los ist. Da reichen manchmal ein paar Minuten am Tag. Und es hält meinen Körper beweglich und geschmeidig. Aber Yoga ist auch in der Art, wie ich mein Essen zubereite oder in dem, welche Werte ich meinen Kindern vermittle.

Unser Atem als mächtiges Instrument
WESTFALICA: Was raten Sie denn Menschen, die sagen: Ich würde so gerne Yoga machen, weil es mir gut tun würde, aber ich bin zu alt, zu ungelenkig, zu unsportlich …
Fr. Kessel: Das ist alles egal! Yoga ist für alle da. Es ist nicht schlimm, wenn man die Haltungen nicht perfekt beherrscht. Bei körperlichen Besonderheiten sollte man ein Studio oder einen Lehrer suchen, der mit dieser Thematik vertraut ist oder bereit ist, sich damit zu beschäftigen und die Praxis anzupassen. Hier lohnt es sich vielleicht auch, Einzelstunden zu nehmen, bis man sich sicher fühlt. Ansonsten würde ich sagen: Geht mit einem offenen Herzen in die Klasse und schaut, wie es euch gefällt. Wichtig dabei ist, dass man auf seinen eigenen Körper hört und dem Yogalehrer Bescheid gibt, wenn Posen oder Hilfestellungen schmerzhaft sind, denn sonst drohen Verletzungen. Nicht jeder Yogalehrer hat anatomisches Fachwissen. Darüber hinaus sind die Meditation und der Umgang mit dem Atem – das Pranayama – eigentlich das Herz der Yogapraxis. Beides hat sich in medizinischen Studien als äußerst effektiv bei stressbedingten Erkrankungen erwiesen. Der Atem ist ein starkes Werkzeug, wenn es darum geht, in einen Entspannungszustand zu kommen, da er direkt auf das Stammhirn und das vegetative Nervensystem wirkt. Und das Beste daran ist ja, dass wir den Atem selbst beeinflussen können.

Freud und Leid von Online-Yoga
WESTFALICA: Wir haben gerade von Yogastudios und Einzelstunden gesprochen, das funktioniert zu Zeiten von Corona ja nicht so gut. Wie ist das bei Ihnen?
Fr. Kessel: Ich gebe Onlinekurse. Anfangs war ich zunächst skeptisch. Eine Onlinestunde erfordert mehr Struktur, ich muss zuvor ein Thema vorbereiten. In einer Präsenzklasse kann ich mir die Teilnehmer anschauen, und entscheide dann, was ich mache. Außerdem war ich erst ein wenig kamerascheu. Dazu kommt, dass man die Menschen nicht sieht, die viel beschriebene Energie in so einer Yogaklasse muss aus mir selbst kommen, die wird nicht von den Schülern durch den Computer übertragen. Das gemeinsame Bewegen hat eine andere Qualität. Aber mittlerweile sehe ich auch die positiven Seiten. Menschen mit einem großen Schweinehund schaffen es im Winter trotz Dunkelheit abends in die Yogaklasse, weil sie nur den Laptop anschalten müssen. Introvertierte Menschen, die sich nicht so gerne in Gruppen bewegen, haben die Möglichkeit, Yoga zu praktizieren. Menschen, die sich als zu dick, alt oder unflexibel empfinden, fassen mehr Mut, Yoga auszuprobieren. Das finde ich sehr schön und das ist vielleicht auch eine Perspektive für die Zukunft.
WESTFALICA: Gibt es noch etwas, was Sie loswerden möchten?
Fr. Kessel: Ich glaube, trotz der Popularität gibt es immer noch sehr viele Vorurteile gegenüber Yoga. Viele meinen, dass Yoga nur herumsitzen in Wollsocken bedeutet. Manche schreckt das Spirituelle ab, für andere erscheint Yoga durch das Akrobatik-Image unerreichbar. Aber ich möchte es eigentlich jedem ans Herz legen. Egal wie, man kann immer Yoga machen. Nicht umsonst heißt es, dass man für Yoga nur atmen können muss. Es muss ja nicht unbedingt einen tiefen spirituellen Kern haben, aber einfach nur zur Entspannung oder Stressreduktion ist Yoga einfach Gold wert.
WESTFALICA: Liebe Frau Kessel, vielen Dank für das Interview!
Fr. Kessel: Sehr gern!
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